„Der Hass auf die Besatzer ist geschwunden“

Dieser Beitrag wird mit freundlicher Genehmigung der Südwest Presse veröffentlicht.

Harmen Atema kam 1943 als Zwangsarbeiter in die Kelternstadt. Kurz vor Kriegsende wurde er zum Parlamentär und verhandelte mit den Alliierten. Das Ermstal besuchte er später regelmäßig.

Harmen Atema in seinem Garten, in dem er Erde aus Metzingen ausgestreut hatte

Harmen Atema teilte das Schicksal vieler junger Männer und Frauen, deren Heimat von der Wehrmacht erobert worden war. Der junge Holländer zählte zum Millionenheer der Zwangsarbeiter, die für das Dritte Reich schuften mussten. 1943 wurde er von den braunen Machthabern dienstverpflichtet, der Zufall führte ihn in die Fabriken der Firmen Holder und Henning.

Was er während seiner Zeit im Ermstal erlebte, hielt der 1921 in Friesland geborene Atema in seinem Tagebuch fest. Darin schildert er auch die teils dramatischen Ereignisse, die sich in den Wochen vor dem Kriegsende und in den Tagen nach dem Waffenstillstand in Metzingen abspielten.

Mitglied beim AKS

Atema war ein guter Beobachter, der zwischen den einfachen Bürgern der Kelternstadt und den Anhängern der NS-Ideologie  differenzierte. „Der Hass, den ich auf die deutschen Besatzer in den Niederlanden hegte, ist geschwunden“, schreibt er beispielsweise im März 1945 in sein Tagebuch. Wenn er sonntags mit seinen Freunden über die Alb wandere oder durch die Dörfer gehe und Arbeitskollegen aus der Fabrik begegne, „werden wir immer eingeladen und bekommen Kuchen und Obst, und man erzählt uns von früher“. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg werde als die beste empfunden, vertraut er seinem Tagebuch an.

„Das System und die Machthaber waren fürchterlich, nicht aber der sogenannte kleine Mann und der einfache Soldat“, sagte er rückblickend in einem 1988 geführten Zeitungsinterview. In jenem Jahr war er einmal mehr zu Besuch in Metzingen und trat bei dieser Gelegenheit in den Arbeitskreis Stadtgeschichte ein, dessen 100. Mitglied er wurde.

Einige brenzlige Situationen

Geschichte, erzählte er damals, habe ihn einfach schon immer interessiert. Geschichte hat er indessen auch selbst geschrieben: Denn der junge Holländer wurde im Frühjahr 1945 für kurze Zeit zu einem der einflussreichsten Männer in der Kelternstadt. Gemeinsam mit einem Freund vermittelte er zwischen den Alliierten, den Zwangsarbeitern verschiedenster Nationalität, die seinerzeit in Metzingen lebten, und den Deutschen.

Dabei sah sich der junge Mann einigen brenzligen Situation gegenüber, immer wieder drohte eine Eskalation der Gewalt. Den Einzug der französischen Truppen in Metzingen erlebte er am 2. Mai gemeinsam mit dem damaligen Bürgermeister Otto Dipper im Rathaus. Schon zuvor hatten sich viele Nazis abgesetzt.

In einem Heuschuppen entdeckte Atema beispielsweise eine abgelegte SA-Uniform aus feinstem Stoff. „Sollte das die Uniform des Ortsgruppenleiters Rath sein?“, fragt er sich in seinem Tagebuch. War also jener Mann einfach sang- und klanglos geflohen, der Atema noch kurz zuvor mit dem Tode bedroht hatte und vor dem sich nicht nur die holländischen Zwangsarbeiter fürchteten?

Das gefundene Hemd nahm Atema mit zu sich nach Hause, sein Wirtin indes verbrannte es flugs im Kellerofen, zusammen mit ihrem Hitlerbild und aller Naziliteratur. Auch aus der Stadtpolitik verabschiedeten sich die Parteibonzen, wie Atema die NS-Nomenklatura bezeichnet, kurz vor Kriegsende. Die Herren setzten sich ab, das Schicksal Metzingens lag damit in der Hand von Bürgermeister Dipper und einem Polizeileutnant namens Siegel. „In unseren Augen war Dipper immer menschlich und vernünftig gewesen“, so Atema. Und „Leutnant Siegel hatten wir einmal in einer christlichen Erbauungsstunde im Keller von Bäcker Euchner getroffen“.

Erde aus Metzingen

Seine Zeit in Metzingen habe ihn sehr geprägt, erinnerte sich Atema Jahrzehnte später. Missen wolle er jene Jahre aber keinesfalls, da er gerne an viele Menschen zurückdenke, die er damals kennengelernt habe. Während seiner Zeit als Zwangsarbeiter war der Holländer überwiegend privat untergebracht und wurde in den Firmen, in denen er arbeitet, offenbar gut behandelt. „Verglichen mit dem Elend, das überall in Europa herrschte, konnte ich mich kaum beschweren“, sagte er 1988 anlässlich seines Besuchs in Metzingen, bei dem er auch Erde aus der Stadt mit nach Hause nahm, um diese in seinem Blumenbeet auszustreuen.

Für seine großen Verdienste um seine niederländische Heimat schlug ihn Königin Beatrix in den 1980er Jahren zum „Ritter im Orden von Oranien Nassau“. Im Mai 1991 starb Harmen Atema, der sich stets als Freund Metzingens empfunden hatte. Am 30. November wäre er 100 Jahre alt geworden.

Das Bild aus dem Jahr 1991 zeigt die Blütenpracht der von Harmen Atema im Jahr 1990 der Stadt Metzingen als Geschenk überreichten 1500 Tulpenzwiebel, die bei der Eisenbahnbrücke eingepflanzt wurden.